Yasmin Reza: Serge // Yishai Sarid: Monster

Yasmin Reza: Serge // Yishai Sarid: Monster

Erinnerungen Holocaust und Familie

Schlussstrich wird es nie geben. Totales Vergessen auch nicht. Und das nicht, weil es der einzige Massenmord der Geschichte oder des 20. Jahrhunderts gewesen wäre. 

Der Holocaust geschah aber mitten im ach so „zivilisierten“ Europa, in Deutschland, das sich damals wie heute auf sich selbst und seine Geschichte und Kultur viel einbildet. Beim Aufstieg der Nazis konnte man Deutschland getrost als eine Speerspitze der Moderne bezeichnen – Berlin als kulturelles Zentrum Europas, Spitzenforschung, Philosophenschulen, Erfindungen, Industrie, modernste Kunst, Verwaltungsmeister und was nicht noch alles. Auch Kriegsverlierer, Kolonialmacht, wackelige Demokratie, ja – die Kehrseite dieser Moderne. 

Der Holocaust, die Erinnerung und die Folgen des Zweiten Weltkriegs dröhnen, brummen, pochen und schmerzen noch immer in vielen Ländern, in vielen Debatten, an vielen Orten und Menschen auch noch 75 Jahre danach.

Bücher über den Holocaust im 21. Jahrhundert sind fast immer Bücher über das Erinnern oder um zu erinnern. Bei Serge ist es eine Geschichte darüber, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts in einer Familie fortwirkt bis in die Gegenwart. Ein Besuch in Auschwitz verläuft dann ganz anders als erwartet. Bei Monster geht es darum, wie auch die Geschichte eines Massenmords zu Erinnerungskultur und Wissenschaft wird, außerdem Staatsräson und Rituale erzeugt.

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Alexander Osang: Fast Hell

Alexander Osang: Fast Hell

Ich hatte den Titel Englisch verstanden, weil Osang ja auch lang in USA Korrespondent des Spiegel war: FAST HELL, Schnelle Hölle, das wär doch ein toller Titel. Auf Deutsch ist er dagegen so lyrisch-zärtelnd… 

Ist zwei Jahre her, dass ich es gelesen habe und mir ist erstaunlich wenig in Erinnerung – bis auf ein schönes Leseerlebnis. Das Buch ist wie eine angenehme Bahnfahrt mit vielen Gedanken, Einsichten und Reflexionen, ohne dass einem nach drei Stunden die Landschaft vor den Fenstern besonders im Gedächtnis geblieben wäre.

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2 x Candice Fox: DARK & HADES

2 x Candice Fox: DARK & HADES

Es gibt witzige Krimis, Mörder-Biopics und Crime-Dokus, es gibt Agatha Christie Style Krimis, Weltraumkrimis oder wie Der Name der Rose Mittelalterkrimis. Es gibt Skandinavien Krimis (und meist schreckliche deutsche Regionalkrimis), Anwaltskrimis, Inselkrimis, es gibt US Serienmörder Krimis, es gibt Horror&Geister- oder Theaterkrimis oder kulinarische Krimis, Dorf-, Land- und Großstadtkrimis und unzählige weitere Cross-Over Formate. Es gibt Krimis mit einsamen, depressiven, versoffenen, hyperintelligenten, schizophrenen oder kriminellen Ermittlern, mit mordenden, lüsternen, verlassenen Kommissarinnen oder Surfer-Detektive oder Ex-Irgendwas Privatermittler, es gibt Omas oder Kinder, die Fälle klären. Und es gibt die Bücher von Candice Fox.

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Jan Böhmermann: gefolgt von niemandem, dem du folgst

Jan Böhmermann: gefolgt von niemandem, dem du folgst

Twitter Tagebuch 2009-2020

Die Welt war eine andere. Klar. Auch die Twitterwelt war eine andere, als Jan Böhmermann zehn Jahre Twitterei in ein Buch band 2020. Vor Corona. Vor Invasion. Zwei Jahre später vom Jünger zum Skeptiker gewandelt, denkt er wegen Elon Musks Übernahme und dessen grotesken Gehabe als Chef des Dienstes über das Ende von Twitter oder jedenfalls sein Ende bei Twitter nach. Und ich lese, wie es mal für ihn war, begeistert 140 Zeichen zu lieben und Millionen Follower zu sammeln.

Ein Buch wie das Höhlengleichnis von Platon: Abbild der Wirklichkeit, der wir in Eigenleistung sehr viel (Text/Hintergrund/Zusammenhänge) hinzufügen müssen, um es als Etwas zu erkennen. Ein unterhaltsames Buch, das fast schon nostalgisch wirkt, weil bei allen Debatten und Shitstorms damals, die Debatten heute, nur zwei Jahre später, noch krasser, die Shitstorms noch seltsamer, die Cancelei noch schneller und die Aluhüte, AfD Pimmel und Pimmelisen noch zahlreicher geworden sind. 

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Wir Klimawandler (Under a white sky: The nature of the future) von Elisabeth Kolbert

Wir Klimawandler (Under a white sky: The nature of the future) von Elisabeth Kolbert

Der Titel Under a white sky: The nature of the future ist deutlich besser. Der Deutsche Titel ist aus Verkaufsgründen irreführend. Denn ums Klima geht es nur in einem der Kapitel dieses großartigen, erhellenden, unterhaltsamen Buchs. Ansonsten erzählt Kolbert davon, wie wir Menschen Dinge in oder mit der Natur tun, die (unbeabsichtigt) sie so sehr verändern, dass wir danach für unglaublich viel Geld Dinge tun müssen, um die Schäden zu reparieren oder zumindest zu begrenzen – wodurch wir nicht selten, noch mehr Schaden anrichten – ad infinitum.

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Douglas Stuart: Shuggie Bain

Douglas Stuart: Shuggie Bain

Allerallerwärmste Empfehlung vom Buchhändler bei Uslar und Rai in Berlin — und nicht enttäuscht worden. Eine witzige, wilde, schöne, bittere, hoffnungsvolle und tieftraurige Geschichte. Eine Art Oliver Twist wie bei Dickens oder Die Elenden von Hugo – nur ganz nah in den 80er Jahren in Schottland. Diese 80er wirken so weit weg wie das 19. Jahrhundert bei Hugo und Dickens: Arbeiterstolz, Klassenbewusstsein? Hier nicht. Kein Ken Loach Durchhaltewillen. Die Arbeit ist hart und schlecht bezahlt, das Fernsehen muss man mit Münzen füttern, um Programm zu haben, mit Rabattmarken und billigem Bier versuchen die Leute durchzukommen, die alltägliche Gewalt und der große Stumpfsinn ersticken Gemeinschaft oder gar Revolutionsideen. Und mittendrin Kinder, deren Zukunft vorprogrammiert scheint, wenn sie es denn überleben und weg aus Glasgow schaffen. Wie Shuggie.

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Hervé Le Tellier: Die Anomalie

Hervé Le Tellier: Die Anomalie

Ein bisschen Epochenkritik, ein bisschen Ensemblebuch ohne Hauptfigur, ein bisschen postmoderner Wahrheitsrelativismus gemixt mit klassischer Doppelgängerfantasie und SciFi, Matrix- und Brief-Roman. Und Schriftstellerroman und Dokudrama. Wäre vermutlich einfacher zu sagen, was das Buch nicht ist: Krimi z.B., wobei…, ist es auch. Oder Familiengeschichte? Wobei…, ist es auch. Oder tragische Liebesgeschichte? Ist es auch. Vielleicht ist genau das am Ende das Problem dieses dennoch recht schmalen Buchs. Dass es all das ist und auch sein will.

Der Doppelgänger ist ein eigenes Genre in Film und Literatur. Er verwischt seit Jahrhunderten die Grenze zwischen dem Ich und den Anderen, unterhöhlt die Autonomie des Subjekts, ist Mythos, in dem sowohl das Leiden an der Entfremdung und der Wunsch nach dem Ausbruch zusammenfinden. „Ich bin ein anderer sein, ich komme nur nicht dazu“, sagt man im Scherz. Die Passagiere des Flugs aus Paris, sie kommen jetzt dazu.

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Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch – Amerika

Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch – Amerika

Lange her, dass ich mehrmals laut lachen musste beim Lesen. Meyerhoffs Memoire hat genau wie seine anderen Bücher alles, was es braucht: Die beeindruckende Fähigkeit, Menschen in kleinen Szenen zu beschreiben, einen Helden (sich selbst), der zugleich sympathisch wie unzulänglich und sehr aufmerksam ist. Dabei erzählt er witzig und klug, während immer ein leicht melancholischer Ton mitschwingt.

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Louise Erdrich: Der Nachtwächter

Louise Erdrich: Der Nachtwächter

Es geht – auf der Handlungsebene dieses tollen Romans – ums Überleben einer First Nation in den USA. Und um das, was ein Einzelner gegen ein scheinbar übermächtiges System ausrichten kann. Auf einer ganz anderen Ebene handelt der Roman von der tiefen Verbundenheit zum eigenen Land, zu dem Boden, auf dem man steht und stirbt, Generation um Generation. Die Grenzen von Zeit und Raum, Damals&Jetzt, hier&woanders lösen sich auf und ermöglichen Hellseherei, Flüche. Geistwesen sprechen und Tiere weisen die Richtung – aber auch die Toten sind da, die Gescheiterten und Verlorenen, Alkoholismus und Entfremdung.

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Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee

Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee

Noch ein Rothmann Buch über den Zweiten Weltkrieg? Dachte ich, als ich den Roman in der Buchhandlung sah – und hab es natürlich trotzdem mitgenommen. Für einen Rothmann Fan der Ruhrgebietsbücher und der Berlin Bücher über die Erzählungen bis zu den Kriegsbüchern selbstverständlich! Ich mag seinen unprätentiösen, dabei immer wieder zarten oder lyrischen, dann harten und gewollt löchrigen Erzählstil einfach sehr. Er schafft keine Figuren, sondern Menschen mit Brüchen und Widersprüchen und all diesen unterdrückten Wünschen und gefangen in Zwängen und Verlusten, er schafft Schicksale. Auch in diesem Buch wieder.

Der dritte Roman über die letzten Kriegstage in Deutschland und die unmittelbare Zeit danach (Im Frühling sterben, 2015, Der Gott jenes Sommers, 2018). Rothmann folgt offenbar der Logik des Blues, oder des Rock. Da ist es auch die immer neue und scheinbar unerschöpfliche Variation des immer gleichen. Die Figuren wieder mit ähnlichen Erlebnissen an den gleichen Orten wie in den beiden Vorgängern. Nur mit etwas anderen Schicksalen oder Entscheidungen, die aber doch wieder in ähnliche Leben münden.

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